UNERWARTETE BEGEGNUNG MIT DER VERGANGENHEIT

In Aufbruchstimmung zu sein ist meist begleitet von einem Gefühlsgemisch aus Hoffnung und Unbehagen: Wird alles so klappen, wie man es sich ausgemalt hat? Was begegnet einem auf dem Weg ins Unbekannte? Wird man mit Erleichterung und Stolz rückblickend sagen können: „Bin ich froh, dass ich das getan habe.“?

Ich bin dem Reiz des Fremden schon immer gerne nachgegangen. Ferne Länder, andere Kulturen, aber auch mein eigenes Inneres zu erkunden, so wie einen neuen Menschen kennenzulernen, das versprach stets Abenteuerliches. Zugegeben waren die Ereignisse im Vorfeld zu meinen Reisen nicht immer freudvoll, manches Mal schien der Ausweg, mich auf Neues einzulassen, so eng wie ein Nadelöhr, durch dass ich mich kaum hindurchgezwängt sah.

Das Neue anzunehmen gleicht einem Weltenwechsel, ähnlich einer Geburt, bei der wir eine vertraute wohlige Umgebung verlassen, um uns in größeren Räumen zu platzieren und dort weiter zu wachsen. Ich habe viele Weltenwechsel seit meiner physischen Geburt erlebt und jede war begleitet von unterschiedlichen Geschenken. Geschenke, die selten vorher so konkret auf meiner Wunschliste standen, sondern erst aus einer erweiterten Retrospektive von mir gewürdigt wurden.

 

Ahnungen

Wenn wir etwas aufgeben oder jemanden verlassen, um etwas Neues zu starten, dann verbinden wir dies oft mit der Entbehrung von bestimmten Dingen. Darin konnte ich meist kein Gewinn sehen. Gleich auf welchem Weg mich das Neue rief, ob ich es selbst bestimmte oder die Umstände sich wandelten, die Trauer über den Verlust, den Abschied gehörten stets zum Prozess mit dazu. Über die Jahre gelang es mir, den Ankündigungen für einen erneuten Aufbruch achtsamer zu begegnen. Aus den Paukenschlägen des Lebens wurden zarte Klingeltöne, die mich weckten, genauer hinzuspüren, dass nun die Zeit gekommen sei, eine zu eng gewordene Hülle zu verlassen. Das Einlassen auf die Ahnungen jener Erkenntnis entsprach den ersten Wehen, Schmerzen, die ich sehr wohl ernst nahm und zugleich ohne weiteres Drama mit tiefen Atemzügen beruhigen konnte. Doch wie vermutlich die meisten Menschen hoffte auch ich nach jedem Veränderungsprozess, dass dies die letzte Geburt meines Selbst gewesen ist. Sämtliche Ressourcen von Kraft, Vertrauen, Zuversicht, Entschlossenheit, Durchhaltevermögen und innerer Stärke schienen jedes Mal restlos ausgeschöpft. Zu meinem Erstaunen stellte ich allerdings fest, dass auch diese Kapazitäten mitzuwachsen schienen.

 

Reiseabenteuer

Als sei ich Mitspieler in einem unergründlichen dynamischen Spiel des Lebens mit mir, steigerte ich mit jedem Neuanfang mein Prüfungslevel. Für meinen Kopf blieb es unübersichtlich, ihm entzog es sich, mit weit mehr Fragezeichen als Antworten, mit vor allem unplanbaren Parametern immer existenziellere Wege zu beschreiten. In meinem Herzen herrschte dagegen befremdliche Ruhe und Klarheit, so als wollte es mir sagen: „Ist doch alles auf einem guten Weg. Mache einfach weiter so …“ Leichter gesagt als getan. Das eigene Leben als ein Reiseabenteuer zu gestalten ist bereits herausfordernd, doch wenn man Mutter wird und fortan für sich und ein Kind verantwortlich ist, bekommt die ursprüngliche Aufgeschlossenheit gegenüber Veränderungen ein ganz anderes Gewicht. Direkt nach der Geburt meines Sohnes stand genau eine solche existenzielle Wendung in meinem Leben an. Das Neue klopfte an die Tür: „Hallo, hier bin ich, Du musst aus Deiner Wohnung raus.“ Doch das war nicht das, was mich in Aufruhr versetzte, sondern das Wissen um den weitaus größeren, bislang ungelösten Konflikt in der Partnerschaft. Mit dem angekündigten Eigenbedarf an meinem kleinen gemütlichen Nest wurde ein mächtiger Stein ins Rollen gebracht.

 

Altlasten

Obwohl es bereits einige Jahre zurückliegt, empfinde ich es bis heute anhaltend nervenaufreibend, mir in Erinnerung zu rufen, was sich damals alles zutrug und auf welche Weise ich durch das schäumende Meer der Ungewissheiten getragen wurde. Ich hielt das unbekümmerte, frisch geborene Lebewesen in meinem Armen und sah ein Nadelöhr für Veränderungen auf mich zukommen. Die Auseinandersetzungen in der Partnerschaft rankten sich zwar primär um die Frage nach einer neuen Behausung, brachten aber vielmehr den bereits lang schwelenden Frust zum Vorschein: Wie in einem Brennglas wurde uns die tiefsitzende Grundproblematik unausweichlich vor die Füße gelegt. Für mich stand wirtschaftlich weitaus mehr auf dem Spiel, was mich zurecht hätte veranlassen können, einzuknicken und die Nadel samt ihrem Öhr zurück ins Nadelkissen zu stecken. Die Herausforderung mich von dem zu befreien, was schon längst nicht mehr passte, wirkte wie ein Berg, den ich zu erklimmen aufgefordert war und bei dessen Anblick mir schon die Puste wegblieb. Es war der Berg, den ich selbst erschaffen hatte, weil das damals Neue viel mehr Altlasten mitschleppte als ich wahrhaben wollte. Nun wurde mir genau das schlagartig klar. Im übertragenen Sinne würde auch das gerade leibhaftige Neugeborene nicht wirklich befreit weiterwachsen können, wenn ich auf der alten Scholle, so wie sich zeigte, stehenbliebe.

 

Vergangenheit

Das Leben hatte mich auf ein neues Level in seinem Abenteuer-Kletterpark eingeladen, ich klinkte den Karabiner in der Führungsseil ein und nahm den wackeligen Gang über die erschreckende Tiefe zum sicheren Boden auf. Mein kleiner Sohn und ich fanden ein neues Zuhause – im doppelten Sinn. Wir bezogen eine Wohnung im idyllischen Grünen, mit viel Raum zum Durchatmen und Auftanken, mit viel Fläche zum unbeschwerten Sein und sich ausbreiten. Wir fanden Menschen, die uns freundlich zugewandt waren, friedlich und inspirierend zugleich. Wir lösten uns in Folge und konsequenterweise von den alten Banden ohne die Türe zur Vergangenheit vernageln zu müssen. Sie ist ein Teil unseres Lebens, die jederzeit geöffnet werden kann, doch an die nun zuerst angeklopft werden muss. Es war ein wildes Reiseabenteuer, vergleichbar mit einer Atlantiküberquerung per Segelboot, während ich bislang nur auf Seen unterwegs gewesen war. Doch das Leben hatte mich über diverse Erneuerungsprozesse gut vorbereitet und meine Ressourcen an Selbstvertrauen reichlich aufgefüllt. Das spürte ich besonders als ich auf hoher See war. Keine sich furchterregend auftürmende Woge konnte mich zur Umkehr bewegen, ich hielt Kurs, vermutlich weil mir mein Sohn durch seine Anwesenheit stets in Erinnerung rief, welches Risiko eine Geburt mit sich bringt, und dass es auch bei dieser keine Option für ein Zurück gab.

 

Rückanbindung

Das Neue und wir wurden gerade über diesen herausfordernden Weg zu einer eingeschworenen Gemeinschaft und schon bald hatten wir es uns auf der unbekannten Scholle gemütlich gemacht. Von dort aus reckten und streckten wir unsere Arme und Fühler in sämtliche Richtungen aus. Wie Äste an einem Baum trieben wir aus und nahmen den ganzen Raum mit Leichtigkeit und Lebensfreude ein. Neue Kontakte wurden bald zu liebgewonnenen Freunden unseres Lebens, die Umgebung zu einer erfrischenden Erweiterung und Verfestigung unseres Heimatgefühls. Wir genossen das Angekommensein und umarmten innerlich jenen Moment, da das Neue einst so forsch an die Tür geklopft hatte.
Aus meinem Inneren konnten viele berufliche Neuerungen keimen, was gleichfalls eine Rückbesinnung auf wesentliche Anliegen war, die ich für einen langen Zeitraum hintenangestellt hatte. Das Neue wurde zu einer Rückanbindung an mein zentrales Inneres. Damit begegnete ich auch jenen Seiten von mir, die vieles von dem, was mir am Herzen lag, bislang zu boykottieren verstanden.

 

Geschenke

Zu dem mich Ausbreiten gesellte sich eine Vertiefung, dem Baum wuchsen nicht nur Äste, sondern Wurzeln. Noch nie in meinem ganzen Leben fühlte ich mich derart zuhause, wie an diesem Ort. Wie gut, denn ein neuer Sturm stand bevor: Lebensveränderungen durch anhaltende Ausnahmezustände, für die es zu keiner Zeit ausreichende Vorerfahrung gibt. Alles, was sich innerhalb des vergangenen Jahres zugetragen hat, band uns noch intensiver und dankbarer an diesen Platz, der uns vom Leben geschenkt worden war. Die Kostbarkeit dieses Geschenks nahm mit der Unberechenbarkeit der äußeren Umstände jeden Tag an Bedeutung und Gewicht zu. Zu dem Gefühl der Geborgenheit kamen Empfindungen des Beschütztseins, der Erholung, des Abstands zu allem, was um uns herum toste. Behütet inmitten eines Orkans, kein Tag verging, an dem ich nicht meiner Verbundenheit zum Leben dankte und immer mehr beschloss, mich seiner Führung vollends hinzugeben. Und es dauerte nicht lange, da vernahm ich wieder das Klopfen des Neuen: „Hallo, hier bin ich, Du musst aus Deiner Wohnung raus.“ Ja, erneut stand der Eigenbedarf im Raum. Schon einmal hatte ich ihn gemeistert mit Kind und Scheidung, nun inmitten einer umfassenden, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Krise.



Würdigung

Die zunächst leeren Seiten meines aktuellen Lebenskrimis füllten sich recht schnell mit vielen Ereignissen, die zumindest hinsichtlich meiner Suche nach einer neuen Heimat keinen greifbaren Hinweis enthielten. Doch ich täuschte mich. Zwar erkannte ich den zusammenhängenden Sinn der einzelnen Begebenheiten nicht, doch mit einem Mal sah ich mich entschlossen eine weite Reise zusammen mit meinem Sohn antreten, um geografisches Neuland zu erkunden. Gemeinsam begaben wir uns auf Entdeckungstour und sie enthielt erneut die Begegnung mit der Vergangenheit. Heimatlos zu werden, nicht zu wissen, wo ein Platz zum Ankommen und zur freien Lebensgestaltung sein wird, das ist das Thema meiner Ahnen als Kriegsflüchtlinge. Niemals hätte ich vermutet, dass mich dieses Thema einmal heimsuchen würde. Synchron mit den landesweiten, weltweiten Verwerfungen und meiner persönlichen Lebenssituation schien die Erinnerung aus dem Ahnenreich eine wertvolle Brücke zum tiefen Verständnis und zum Heilen großen emotionalen Schmerzes.
Auf dem Weg ins Unbekannte war ich nichtsahnend dem Ursprung meines Lebensabenteuers in die Arme gefahren. Ich fühlte mich haltlos, ausgeliefert, nackt und verloren. Eine weitere unerwartete Stufe, das eigene neu Geborenwerden zu erleben. Ich gab mich ihm hin und bat das Leben, mich wieder in die Wärme des Ankommens zu führen, an einen Platz, der sowohl zu mir als auch zu meinem Sohn passt.
Wir haben ihn erneut gefunden – am letzten Tag vor unserer Rückfahrt in eine Heimat, die wir nun gerne den Nächsten überlassen.

Der Weg nach vorne ist für mich inzwischen weitaus bewusster mit Begegnungen, Themen aus der Vergangenheit verbunden, so als gäbe mir dies den letzten Antrieb, das Neue vollends in Besitz zu nehmen sowie das Bisherige versöhnlich und im Dank hinter mir zu lassen. So gesehen gibt es keinen bereichernden Aufbruch zu neuen Ufern ohne auf der Landkarte des Lebens das Verweilen in vertrauten Häfen zu würdigen.

 

Originalfassung

 

Den Artikel samt weiterer wertvoller Tipps gibt in der "Auszeit 03/2021" zu lesen.

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