Hohes Ziel, dorniger Weg & viel Gewinn
Immer wieder kommen wir in Kontakt mit den Worten „bedingungslose Liebe“ – doch was wissen wir über sie? Was bedeutet es bedingungslos zu lieben? Wie können wir sie von Selbstverleugnung und Aufopferung unterscheiden? Woran erkennen wir, dass wir im Reich der bedingungslosen Liebe angekommen sind, welche uns als höchste Vollendung der Liebe beschrieben wird?
Zugegeben, auch wenn wir uns an die Beantwortung dieser Fragen machen, werden neue auftauchen. Jedenfalls war und ist dies meine Erfahrung. Nicht nur meine Fragen, sondern auch die, die mir Ratsuchende stellen und die sich im Zuge eines weiteren Buches entwickeln, welches ich zur Aufarbeitung sämtlicher Ungereimtheiten zu schreiben begonnen habe.
Es kommt mir bis heute so vor, dass die Erkenntnisse uns nur Stückweise an die Hand gegeben werden, wenn wir unsere Erfahrungen im Alltag integriert haben, wenn wir im Herzen wirklich gereift sind. Gleich welche Erklärungen uns gereicht werden, wir können sie nicht mit dem Kopf alleine verstehen. Wir werden auf Knopfdruck keine Lösungen für ein plagendes Herzensanliegen finden, nur weil wir raus aus dem Unwohlsein, weg von den Fragen und Zweifeln wollen. Ich habe mich oft am lautesten über den Irrsinn der bedingungslosen Liebe fluchen gehört, wenn mir inmitten meiner ehrlichen Bemühungen um das Gedeihen einer echten Herzensverbindung die Türe zugeschlagen wurde. Erst als nach einer geraumen Zeit meine Wut und Verzweiflung schwächer wurden, dann wandelte sich die zugeschlagene Türe zum Wegweiser meiner eigenen Blindheit. Dass ich an die Liebe zu einer anderen Person geglaubt und diese sich so unerwartet gegen das Gemeinsame entschieden hatte, warf mich auf mich selbst zurück.
Kehrtwende am Boden der Tatsachen
„Was habe ich übersehen?“
Diese Selbstbetrachtung wurde nach etlichen anderen Versuchen mich von den Qualen des Hinterfragens, wie es soweit kommen konnte, was ich hätte anders machen sollen, wo wir falsch abgebogen waren, zu einem wahren Handlauf. Mit dieser Frage schaffte ich Distanz zu Gefühlen der Ohnmacht, der uferlosen Selbstkritik, der notorischen Anklage, der Leere und Dunkelheit, die das Loch in meinem Herzen mit sich brachten. Mir half es ungemein, das Unvermeidbare als Boden des Brunnens, in den das Kind meiner Liebe geplumpst war, anzunehmen. Tiefer konnte ich in meinem Schmerz nicht sinken, also könnte ich es mit einer anderen Sicht auf das Geschehen versuchen: „Was habe ich übersehen? Welche Botschaft des Lebens zu dieser Verbindung habe ich nicht gehört, wollte ich nicht hören?“
Ich war bislang immer davon ausgegangen, dass die Liebe von selbst eine Beziehung trägt, dass sie etwas ist, was einfach da ist – oder eben nicht. Dass sie klar auch Aufgaben und Hürden mit sich brächte, an denen man allerdings gemeinsam wachsen könne. Mir war auch klar, dass der Andere stets ein Spiegel für mich ist, dass mir Unangenehmes in seinem Verhalten eine Tür zu meinem eigenen Weggeschobenem öffnet. Ich hatte niemals über Stufen meiner eigenen Entwicklung zur Liebe nachgedacht. Wenn man allerdings eh gerade am Boden ist, dann kommen auch solche Erwägungen in eine nähere Betrachtung.
Anzunehmen, dass mir das Leben in dieser schmerzhaften Situation helfen wollte, ließ erste neue Motivationsfunken keimen. Nämlich den Wunsch herauszufinden, was seine Botschaft und damit sein Geschenk an mich wären. Mit dieser zunächst inneren Kehrtwende reichte ich dem Leben meine noch ermattete Hand, und das war ein ganz wichtiger Akt der Selbstliebe, der Hingabe an das noch Verschleierte, aber Positive. Ich öffnete mich für die gute Absicht hinter allen Schleiern des Schmerzes, der Ohnmacht, der endlosen Fragentortur. Ich streifte meine Bedingungen Antworten zu finden ab, zeigte mich dem Leben nackig, verletzbar und bereit, mich führen zu lassen. Ich spürte erstmalig den Unterschied zwischen Wunsch und Erwartung. Ich rückte mich zugleich an Position Nr. Eins, indem ich mich den von Wohlwollen getragenen Fragen: „Was habe ich übersehen? Welche Botschaft des Lebens zu dieser Verbindung habe ich nicht gehört, wollte ich nicht hören?“ stellte. Nicht mehr das Verhalten des Anderen war wichtig, sämtliche „Hätte…, wäre…“ wurden nicht länger zerkaut, ich hatte mein Bestes gegeben, Antworten zu finden. Ich gestand mir ein, dass ich bei dieser Herzensverbindung mit meinem Liebes-Latein am Ende war.
Damit tauchte ich in die Bedingungslosigkeit per se ein. Für das Ego fühlt es sich wie Versagen an und genau das habe ich mir bewusst gestattet: Im Fluss aller Tränen habe ich aufgegeben. Ich habe aufgegeben, alles selbst wissen, können oder erklären zu müssen. Ich habe aufgegeben, mich nur dann als liebenswert, attraktiv, wertvoll anzuerkennen, wenn ich alles im Griff habe. Ich habe aufgegeben, mich für irgendetwas, eine Fähigkeit, eine Leistung, ein Merkmal zu mögen. Damit glitt ich hinüber in das Reich der bedingungslosen Liebe, die das reine Selbst umarmt ohne den Druck der Selbstdarstellung. Ich stoppte damit den bisherigen Film über die Liebe, alles, was ich glaubte, darüber zu wissen und wurde in diesem Moment von der Liebe selbst umarmt. Das fühlte sich großartig an: ruhig, still, sehr fein, zart, zugleich stark, unverletzbar, leuchtend, groß, weit – eine seelische Sattheit, die sich in ihrer Fülle nicht wirklich in Worte fassen lässt. Wenn wir in dieser Form berührt sind, dann weil es wie eine Art Heimkommen in das Reich der Liebe selbst ist. Wie lange haben wir danach gesucht, geglaubt, es vor allem in anderen Menschen finden zu können? Es ist ein Fest der inneren Freiheit durch eine solche tiefe Selbsterfahrung zu erkennen, dass wir alles in uns tragen.
Lektionen zur Befreiung
Der Weg in die bedingungslose Liebe ist ein Weg der Befreiung von falschen Annahmen über die Liebe. Wir alle entwickeln durch unsere Erziehung, das Vorleben unserer Eltern, das Miterleben im Freundeskreis und unsere eigenen Geschichten einen persönlichen Film zur Liebe. Wir genießen die Hochphasen des Verliebtseins, die Beständigkeit freundschaftlicher Liebe, die große Verschmelzung der einvernehmlichen körperlichen Liebe, den Aufbau einer partnerschaftlich-familiären Liebe, die fürsorgliche Liebe einer Mutter, vielleicht auch die natürliche Liebe zu anderen Lebewesen, den Tieren und Pflanzen, doch genießen wir auch die Liebe zu uns selbst? Fürchten wir sogleich als Egozentriker oder Narzissten bezeichnet zu werden, wenn wir unsere Selbstliebe zeigen würden? Wie sähe sie überhaupt aus? Was tun wir tagtäglich, um uns in der reinsten Form der Liebe, ohne Bedingungen, ohne Erwartungen, zu lieben, uns von ganzem Herzen so wertzuschätzen, wie wir sind?
Diese Fragen sind warme Lichtfunken in einem oftmals von Unsicherheit eingedunkelten Blick auf uns selbst. Wir werden sie nur für uns selbst beantworten können – und das alleine ist schon eine wichtige Tür. Wir beschäftigen uns mit der bedingungslosen Liebe, nicht damit, was Andere brauchen, wie wir bei anderen ankommen oder was uns mehr Anerkennung verschafft.
Eine befreite natürliche Selbstliebe entspricht einem äußerst starken Magneten für beständige bereichernde Gemeinschaften, beruflichen Erfolg, vor allem für eine stabile Ausrichtung auf unseren eigenen Weg in ein erfülltes, zufriedenes und offenherziges Leben.
Wir reifen daran, dass wir vermeintliche Fehler nicht aus Dummheit oder Minderwertigkeit begangen haben, sondern, dass sie geschehen mussten, um uns auf unsere eigenen blinden Flecken aufmerksam zu machen. Wir haben gelernt, hinzuschauen, uns an Stellen mit uns selbst zu versöhnen, die im Laufe unseres Films zu Makeln, zu Schwachstellen, zu unbewussten Anteilen von uns selbst wurden. Zu Anteilen unserer Persönlichkeit, die wir abgeschnitten haben von unserer Liebe zu uns selbst, weil sie unsere Erwartungen und Bedingungen von uns selbst nicht erfüllen konnten. Jede traurige Geschichte (einer gescheiterten Herzensverbindung) ist daher ein Gewinn, das, was wir in uns selbst schon lange ablehnt haben, mit der Liebe zu versorgen, die es gerade im Schmerz so dringend benötigt. Nicht immer hilft ein Freund oder eine Freundin in diesen Stunden mit einer unmittelbaren Zuwendung und doch ist die Erinnerung an eine solche Geste der Schlüssel, sich selbst zu helfen. Sich ein Kissen zu nehmen, es fest an sich zu drücken, sich klein oder schwach oder ungeliebt zu fühlen ist jener Boden der Tatsachen, den es zunächst anzunehmen gilt, um dann im nächsten Schritt der Liebe selbst die Hand zu reichen und sich aus der Dunkelheit hinausführen zu lassen. „Du bist ein wunderbarer Mensch, ein Wesen, welches wertvoll und liebenswert ist, welches Menschen bereichert und einen wichtigen Platz in dieser Welt einnimmt. Komm mit mir und entdecke dich neu…“ Mit solchen oder ähnlichen Worten könnte eine Lektion der Befreiung enden, mit vielleicht vielen nassen Tüchern und dem spontan aufkommenden Wunsch auf eine herrliche Tasse Tee oder auf ein wärmendes Wannen-Bad.
Wir lernen mit Anderen für uns selbst. Wir reifen durch Andere an uns selbst. Wir erwachen für die Wunderbarkeit der selbstlosen Liebe, wenn wir uns, ohne Bedingungen etwas leisten, können, darstellen zu müssen, einfach lieben und umarmen.
Wir werden zur Liebe selbst
Bedingungslos bedeutet nicht seine Grenzen aufzugeben. Grenzenlos zu lieben bedeutet sogar, seine eigenen Grenzen sehr gut zu kennen, sie liebevoll anzukennen und für sie einzutreten. Nur so können wir sie durch weitere Begegnungen auf der Basis einer gesunden, stabilen Selbstliebe erweitern und wachsen lassen. Unsere bedingungslose Liebe reift mit dem Anerkennen unserer Ganzheitlichkeit, den lichten Seiten und dem noch Verhüllten, mit der Dankbarkeit für schmerzhafte, erlösende Lektionen und dem Zugewinn an allumfassender Liebe im gesamten Leben. Daraus erwachen Mitgefühl, statt Mitleid, Hilfsbereitschaft, statt Aufopferung, Wohlwollen allem Fremden gegenüber, statt Misstrauen und voreiligen Beurteilungen. Unser Leben verändert sich von Innen heraus, eine reichere Quelle versorgt nun den Garten unserer Heimat. Dort wo wir uns zuhause fühlen, dort können wir auch ankommen, in einer Herzensverbindung, die den Weg der bedingungslosen Liebe weitergeht.
Originalfassung.
HINWEIS
Den Artikel samt weiterer wertvoller Tipps gibts im Magazin "ICH BIN" 04/2020 zu lesen.